Vortrag der Philosophisch-literarischen Gesellschaft
Dr. Michael Woll
Zackern an der Tradition. Celans Hölderlinlektüren
Mit großem Bedauern muss die Gesellschaft den angekündigten Vortrag von Hanjo Kesting absagen, da er plötzlich schwer erkrankt ist. Kurzfristig hat sich Michael Woll bereit erklärt, diesen Termin zu übernehmen.
Hölderlin begleitet Paul Celan bis zu seinem letzten Band Lichtzwang, aus dem er 1970 zu Hölderlins 200. Geburtstag liest. Wenige Wochen später nimmt er sich in Paris das Leben, auf dem Schreibtisch findet man eine aufgeschlagene Hölderlin-Biographie. Die Nähe zwischen beiden ist alles andere als selbstverständlich. Celan, dessen Eltern von den Nationalsozialisten ermordet wurden, muss seinen Hölderlin gegen eine Rezeption gewinnen, zu der die Gründung der Hölderlin-Gesellschaft 1943 unter Schirmherrschaft von Joseph Goebbels gehört. Erst in Auseinandersetzung mit dieser Vereinnahmung kann er die Freiheit gewinnen, poetisch Stellung zu Hölderlin zu beziehen. Wo ein Zeitgenosse spottete, »Hölderlin, wie immer halb verrückt, zackert auch am Pindar«, wendet Celan das ›zum Acker gehen‹ als Gemeinsamkeit der Dichter ins Positive: »und zackere an / der Königszäsur / wie Jener / am Pindar«. Die Lektüre von Gedichten wie Andenken und Ich trink Wein zeigt Celans Umgang mit Hölderlin als Teil dieser mühevollen Spracharbeit.
Dr. Michael Woll, geb. 1985, Studium der Germanistik und Mathematik, z.Zt. Feodor-Lynen-Stipendiat der Alexander von Humboldt-Stiftung an der École Normale Supérieure, Paris. Zuletzt erschienen: Hofmannsthals »Der Schwierige« und seine Interpreten (2019).
Foto: Chris Korner